Stille Nacht

Unsere ewige Sehnsucht nach Frieden

Es scheint so, als sei es ein Volkslied, „schon immer dagewesen“, aber es feiert genau am 24. Dezember 2018 „erst“ seinen 200. Geburtstag: das Weihnachtslied „Stille Nacht“.

 In der Christmette 1818 erklang es in der Schifferkirche St. Nikola in Oberndorf bei Salzburg zum ersten Mal, geschrieben von einem Hilfspfarrer und einem Dorfschullehrer.

Joseph Mohr (1792-1848), Hilfspfarrer an St. Nikola, hatte an seiner vorigen Hilfspfarrer-Stelle (Mariapfarr) bereits 1816 den Text zu „Stille Nacht“ gedichtet. In Vorbereitung auf die Christnacht 1818 bat er Franz Xaver Gruber (1787-1863), Dorfschullehrer und Organist in Oberndorf, darum, „eine hierauf passende Melodie für 2 Solostimmen samt Chor und für eine Guitarrenbegleitung (…) setzen zu wollen“. Das tat Gruber zur vollen Zufriedenheit Mohrs. Dieser wirkte bei der Uraufführung neben Gruber (Bass) ebenfalls als Sänger (Tenor) und Gitarrist mit. Seine Ausführungen zu dieser denkwürdigen Christmette schließt der Komponist mit den Worten: „Die Ergriffenheit derer, die an der Messe teilgenommen haben, war eine echte“. Was trug dazu bei?

Im Jahr 1818 waren die Kriege, mit denen Napoleon den Kontinent überzogen hatte, erst seit drei Jahren vorüber. Jahrelang hatten französische Kriegstruppen, Besatzung und Gewaltverbrechen zum Alltag in Österreich gehört. Das Salzburger Land war ein äußerst trost- und hoffnungsloser Ort: Seit 1803 hatte die Herrschaft fünf Mal gewechselt: Vom geistlichen Erzstift war Salzburg zum Kurfürstentum geworden, 1806 an Österreich, 1809 an Frankreich und 1810 an Bayern gefallen. Erst am 1. Mai 1816 wurde Salzburg endgültig Österreich zugesprochen. Oberndorf war dadurch auf einmal geteilt: auf der einen Seite der Salzach Bayern, auf der anderen Österreich.

Das Jahr 1816 ging zudem als „Jahr ohne Sommer“ in die Geschichtsbücher ein. Im April 1815 war der indonesische Vulkan Tambora ausgebrochen; so entstand ein „vulkanischer Winter“: Jahrelang anhaltende globale Klimaveränderungen mit Regen, Kälte und Unwettern führten auch in Österreich zu massiven Ernteausfällen. 1816 stiegen in Salzburg deshalb die Getreidepreise um 150 Prozent an. Bäcker streckten das Brot mit Sägemehl.

Neben der Landwirtschaft waren in Oberndorf, wo man immer wieder Überschwemmungen erlebte, die Salzschifffahrt und der Schiffsbau wichtige Lebensgrundlagen; diese kamen ebenfalls zum Erliegen.

Diesen politischen und wirtschaftlichen Umständen waren die Menschen hilflos ausgeliefert. Ihre Sehnsucht nach besseren Zeiten, nach Frieden, Hoffnung, Ruhe und Brüderlichkeit war groß, aber auch die Hoffnungslosigkeit.

Mitten in dieser Zeit trafen Mohr und Gruber aufeinander und beflügelten einander. So entstand ein Lied, das, ohne die Absicht geschrieben, weltberühmt zu werden, die Menschen seit 200 Jahren dennoch tief berührt.

Schon in den folgenden Jahren verbreitete sich das Lied. Der Orgelbaumeister Karl Mauracher aus Fügen im Zillertal reparierte die beschädigte Orgel der St.-Nikola-Kirche, wurde aufmerksam auf das Lied, ließ sich eine Abschrift davon geben und brachte es nach Fügen; dort erklang es – so will es die Tradition vor Ort – bereits in der Christmette 1819. Die Familie Rainer übernahm das Lied und soll es 1822 Kaiser Franz I. von Österreich und Zar Alexander I. von Russland im Fügener Schloss vorgetragen haben. Sie gab das Lied an Familie Strasser weiter, deren Mitglieder ebenfalls nicht nur schön singen konnten, sondern geschäftlich herumkamen: Als Handschuhmacher vertrieben sie ihre Produkte etwa auf der Leipziger Messe.

Dort sollen sie um 1830 (zur Aufbesserung ihrer Verkaufserlöse) in einem „volkstümlichen Konzert“ zum ersten Mal das „neue“ Weihnachtslied aus Oberndorf gesungen haben. Vor allem diese „Melodie für die Ewigkeit“ gewann die Aufmerksamkeit des Publikums. Die Strassers wurden sogleich für das folgende Jahr gebucht unter der Bedingung, dass „Stille Nacht“ wieder dabei sein musste. Bereits 1833 wurde das Lied in Dresden erstmalig gedruckt mit drei anderen „ächten Tyroler Liedern“. Solche Lieder waren damals modern, galten die Tiroler mit ihren Trachten und Tänzen doch als typisch „älplerisch“ und damit volkstümlich. Zudem war der Tiroler Andreas Hofer als Freiheitskämpfer gegen die frühere Besatzung durch Napoleons Truppen bekannt.

Johann Hinrich Wichern (Gründer des „Rauhen Hauses“ in Hamburg) nahm es 1844 in ein vielfach aufgelegtes Liederbuch auf, wodurch es auch bei den evangelischen Christen bekannt und beliebt wurde.

Schon bald wurde „Stille Nacht“ als Volkslied angesehen. Weil König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen dieses Lied aber besonders liebte, bat seine Hofkapelle, die es irrtümlich dem Salzburger Komponisten Michael Haydn zuschrieb, 1854 das Benediktinerstift St. Peter (Salzburg) um eine Abschrift des Liedes. Dort stieß man aber auf Gruber, der, mittlerweile hochbetagt, seine Erinnerungen niederschrieb.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschien dieses Lied in Gesangbüchern in Schweden, England und Britisch-Indien. Die Tiroler Familie Rainer hatte „Silent Night“ zu Auftritten vor die englische Königsfamilie und in die USA mitgenommen. Dort wurde es bald als das Weihnachtslied schlechthin gesungen und bis in die 1940er Jahre als einheimisches Volkslied angesehen. Die Plattenversion von Bing Crosby von 1935 wurde mehr als 10 Millionen Mal verkauft.

Heute gibt es Übersetzungen in mehr als 300 Sprachen und Dialekte. Die Inuit singen „Juullimi qiimasuttut“, auf Hawaii stimmt man „Pō La‘i Ē“ an, und in Indonesien heißt „Stille Nacht“ „Malam Kudus“.

Wie konnte „Stille Nacht“ zu einem die Völker verbindenden Lied werden? Bis zu 2,5 Milliarden Menschen könnten es am Heiligen Abend anstimmen.

Franz Xaver Gruber schrieb sanfte Töne mit einer gewissen Verletzlichkeit, die wohl daher rührt, dass er für zwei Solostimmen, Chor und Gitarrenbegleitung komponierte. Der wiegende Sechs-Achtel-Takt, zwei Solostimmen (oft im Abstand einer Terz) und die einfachen harmonischen Folgen von Tonika, Subdominante und Dominante dürften zum Erfolg des Liedes wesentlich beigetragen haben.

Aber auch der Text von Joseph Mohr ging den streitbaren Oberndorfer Salzachschiffern und Schiffsbauern ans Gemüt. Warum? Hier lohnt ein Blick auf den Originaltext, findet man doch in vielen Gesangbüchern nur die Strophen 1, 6 und 2 (so auch im „Gotteslob“, Nr. 249):

1) Stille Nacht! Heilige Nacht!

Alles schläft. Eynsam wacht

Nur das traute heilige Paar.

Holder Knab’ im lockigten Haar,

|: Schlafe in himmlischer Ruh! :|

2) Stille Nacht! Heilige Nacht!

Gottes Sohn! O! wie lacht

Lieb’ aus deinem göttlichen Mund,

Da uns schlägt die rettende Stund’.

|: Jesus! in deiner Geburt! :|

3) Stille Nacht! Heilige Nacht!

Die der Welt Heil gebracht,

Aus des Himmels goldenen Höh’n

Uns der Gnade Fülle läßt seh’n

|: Jesum in Menschengestalt! :|

4 ) Stille Nacht! Heilige Nacht!

Wo sich heut alle Macht

Väterlicher Liebe ergoß

Und als Bruder huldvoll umschloß

|: Jesus die Völker der Welt! :|

5) Stille Nacht! Heilige Nacht!

Lange schon uns bedacht,

Als der Herr vom Grimme befreyt,

In der Väter urgrauer Zeit

|: Aller Welt Schonung verhieß! :|

6) Stille Nacht! Heilige Nacht!

Hirten erst kundgemacht

Durch der Engel „Halleluja!“

Tönt es laut bey Ferne und Nah:

|: „Jesus der Retter ist da!“ :|

Gerade die weggelassenen Strophen 3 und 4 scheinen diejenigen zu sein, die Mohrs theologische Aussage über das Weihnachtsgeschehen am stärksten wiedergeben:

  • Mitten in „tiefster Nacht“ kommt im Jesus-Kind Gott selbst auf die Welt. Die „Nacht“ steht hier als Chiffre für das Dunkel in der von Gott gut geschaffenen Welt, für die Erschöpfung ihrer Geschöpfe, für die Zeit der Sünde „seit Adams Zeiten“, für die Not und die Nöte aller Menschen, damals wie heute. Dann „schlägt die rettende Stund‘“.
  • Die „Mitte der Nacht“ steht nach dem alttestamentlichen Buch der Weisheit gleichzeitig für das beginnende Heil, für die nahegekommene Erlösung, für den Anfang der Erholung. Und hier wird verkündet: „Jesus der Retter ist da!
  • Dieser Jesus, Gottes Sohn, Gott selbst, kommt „aus des Himmels goldenen Höh’n“ zu uns, wird uns Bruder. Durch ihn sollen wir zum göttlichen Leben finden. Er zeigt damit „der Gnade Fülle“, zu der wir berufen sind.
  • Und wenn in Jesus Gott selbst Mensch wird, dann sagt Gott uns in diesem Kind zu: Ich bin einer von euch, ich bin für euch sichtbar, berührbar, hörbar, und einmal wird alles gut sein. Die Welt wird geschwisterlich, da „als Bruder huldvoll umschloß Jesus die Völker der Welt!
  • Dieser Friede entspringt nicht weltlicher Macht, sondern der Ohnmacht der Liebe. Nicht ein großer Herrscher, sondern das Wunder der Geburt eines Kindes zeigt, dass letztlich die „Lieb‘ aus deinem göttlichen Mund“ siegt.

Diese Gedanken könnten auch hinter jener wunderhaften Begebenheit stecken, die oft erzählt und verfilmt worden ist. Im Ersten Weltkrieg, im heutigen Grenzgebiet von Belgien und Frankreich hat sie sich am Heiligen Abend 1914 zugetragen. Plötzlich erklang aus deutschen Schützengräben das Lied „Stille Nacht“; britische Soldaten antworteten mit Gesang. Schließlich begegneten die feindlichen Soldaten einander, tauschten Geschenke, Tabak und Getränke aus; sogar von einem gemeinsamen Gottesdienst wird berichtet. Dieser kleine Weihnachtsfriede im großen Krieg hielt an einigen Frontabschnitten bis in den Januar 1915 hinein.

So ist es insgesamt gar nicht verwunderlich, dass der große spanische Opernsänger Plácido Domingo formuliert: „Ich denke, ‚Stille Nacht, heilige Nacht!‘ wäre als das Welt-Friedenslied prädestiniert wie kaum ein anderes Lied auf dieser Erde!“ Weil es die Sehnsucht nach Frieden weckt? Die Sehnsucht nach Liebe? Nach Licht in der Dunkelheit?

Sehnsucht nach Frieden war bei den ersten Hörern des Liedes sicher groß, größer vielleicht noch 1914 in den Schützengräben. Wünschen aber nicht auch wir uns eine „Stille Nacht“ als Zustand, in dem es einen grenzenlosen Frieden für alle gibt, unabhängig von Religionen, gleich einem „Open Space“? Tragen nicht auch wir sie in uns … eine ewige Sehnsucht nach Frieden?

Lauschen Sie doch einmal der teilweise überraschenden Version des „Vokalensemble Unerhört“ (https://www.facebook.com/Vocalensembleunerhoert/) aus Österreich:

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Verwendete Quellen - gedruckte Quellen:

  • Guido Fuchs: Unsere Weihnachtslieder und ihre Geschichte, Verlag Herder, Freiburg i.Br. 2. Auflage 2010, S. 131-138.
  • Anselm Grün: Weihnachtsengel. Meditationen, Verlag Herder, Freiburg i.Br. 2011.
  • Ingeborg Weber-Kellermann: Weihnachtslieder. Musikalische Bearbeitung von Hilger Schallehn. Originalausgabe, Wilhelm Goldmann Verlag / Musikverlag B. Schott’s Söhne, 2. Auflage 1983, S. 217-224.

Verwendete Quellen - Online-Quellen: